Kategorie-Archiv: Natur & Umwelt

„Die Natur vor die Haustür holen“ – Wie das Projekt „Natürlich Hamburg!“ Grünflächenpolitik & -management in Städten verändern will

Im November 2017 trat Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan vor die Presse und sagte:

„Es ist wichtig, in Parks und Grünanlagen richtige Natur zu erleben, nicht nur den kurz gemähten englischen Rasen.“

Und weiter:

„Wir wollen zeigen, dass naturbelassene Bereiche auch in gepflegte Parks passen und spannende Naturerlebnisse bieten.“

Anlass dieser Sätze war die Vorstellung von „Natürlich Hamburg!“, dem ersten Naturschutzgroßprojekt in einer deutschen Großstadt. Mit Unterstützung des Bundesamts für Naturschutz will die Hansestadt in den kommenden Jahren mehr Wildnis auf ihren Grünflächen zulassen und ihre Naturschutzgebiete aufwerten. Mehr noch: Das Projekt soll, wie von Kerstan angedeutet, die Frage bearbeiten, wie Großstädte und ihre Bewohner prinzipiell Stadtgrün begreifen und was nötig ist, um sie naturnäher zu gestalten.

Hamburgs Stadtgrün soll naturnäher werden - so wie hier am Wandsebach Foto:

Hamburgs Stadtgrün soll naturnäher werden – so wie hier am Wandsebach (Quelle & Copyright: BUE/Christoph Siegert)

Das ist nicht unerheblich. So tummeln sich in Städten auf relativ kleiner Fläche zahlreiche Tier- und Pflanzenarten. Sie werden angezogen vom Strukturreichtum und den damit einhergehenden Nischen, nicht zuletzt, weil diese im zunehmend ausgeräumten Umland immer seltener werden. Auch menschliche Stadtbewohner profitieren von einer vitalen und artenreichen Stadtnatur – hilft sie doch bei Luftreinigung und Wasseraufbereitung, puffert sie Temperaturspitzen ab, fördert sie Gesundheit und Erholung und ist obendrein ein sozialer Begegnungsort (s. dazu die Metastudie von Naturkapital Deutschland).

Folgerichtig gerät Stadtnatur immer mehr in den Blick, wenn es darum geht, Herausforderungen wie das Artensterben, die Urbanisierung und die Klimakrise zu meistern. Ein Selbstläufer ist das freilich nicht: Immer mehr Brachen und verwilderte Baulücken verschwinden infolge der sogenannten „Inneren Verdichtung“. Zwar mag dadurch eine weitere Zersiedelung des Umlands zumindest gedämpft werden. Innerstädisch droht jedoch eine Verödung.

Vor diesem Hintergrund lässt sich „Natürlich Hamburg!“ also nicht nur als  naturschutz-, sondern auch stadtpolitisches Projekt mit Pilotcharakter begreifen, indem es zu beantworten sucht, wie Biodiversität in Städten erhalten sowie langfristig ausgebaut werden kann. Das meint nicht nur Strategien in Stadt- und Freiraumplanung, sondern auch die konkrete Gestaltung sowie das Management öffentlicher Park- und Grünanlagen. Denn gegenwärtig bestehe noch zu häufig ein „Dissens zwischen arten- und biotopschutzorientiertem Naturschutz auf der einen Seite und traditioneller Grünflächenpflege auf der anderen Seite“, so das BfN. Das Projekt solle sich daher nicht zuletzt der Frage widmen, wie dieser Konflikt aufzulösen sowie ganz grundsätzlich eine „gleichberechtigte Integration der Belange des Naturschutzes in die städtebauliche Entwicklung“ sicherzustellen sei.

Bis 2031 hat „Natürlich Hamburg!“ Zeit, entsprechende Antworten zu liefern. Derzeit läuft die Planung, die ab 2022 sukzessive umgesetzt werden soll – an insgesamt 40 Standorten mit einer Gesamtfläche von 6.200 Hektar, zuzüglich vier großer Ausfallstraßen (eine entsprechende Karte findet sich hier). Derzeit sind u.a. folgende Maßnahmen vorgesehen:

  • Anlegen von artenreichen Blumenwiesen
  • Förderung von Wildstauden
  • Sicherung von Altbäumen und Totholz
  • naturnahes Straßenbegleitgrün
  • Renaturierungen und Sanierungen
  • ökologische Aufwertung und besucherfreundliche Gestaltung von Naturschutzgebieten

Weil ich all das sehr spannend finde, habe ich mich kürzlich anlässlich eines Seminars an der Berufsschule 06 Hamburg eingehender mit „Natürlich Hamburg!“ beschäftigt. Dabei ging es neben den Grundzügen des Vorhabens sowie der geplanten Umsetzung auch um eine Einordnung mithilfe unabhängiger Expertenstimmen aus Naturschutz sowie Garten- und Landschaftsbau. Wen es interessiert: Die dabei entstandene Vortragspräsentation findet sich nun hier als PDF.

Keimzellen für wildes Leben – Naturschätze im Centro de Portugal

Flapp, flapp, flapp. Auf und ab schlagen die Schwingen und tragen den Purpurreiher über das Wasser. Sein sonst so langer Hals ist zu einem S aufgebogen, die Beine mit den großen Klauen sind weit nach hinten gereckt. Er ist etwas kleiner als der verwandte Graureiher, dafür schimmern Flügel und Rumpf zwischen dunkelgrau und bräunlich-violett in der Sonne. Ein prächtiger Anblick.

Die Szene trägt sich zu über der Ria de Aveiro, einem Feuchtgebiet an der Westküste Portugals. Mit rund 150 Brutpaaren zählt sie zu den nationalen Hot-Spots des Garça-vermelha, wie der Purpurreiher in der Landessprache heißt. Die Ria liegt eine Autostunde südlich von Porto, dort, wo der Fluss Vougo und der Atlantik aufeinanderstoßen. Ozean und Flusswasser, aber auch die ansässigen Menschen haben hier über Jahrhunderte ein Patchwork aus Lagune, Delta und Agrarland ausmodelliert.

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Feuchtwiesen, Äcker und der Einfluss der Gezeiten: Die Ria de Aveiro, im Hintergrund die Ausläufer der Serra da Estrela

„Dank all dieser Nischen ist die Ria für viele Tier- und Pflanzenarten unheimlich wichtig“, sagt Eduardo Mendes, der für das örtliche Umweltbildungs- und Naturtourismusprojekt BioRia arbeitet. Die Purpurreiher, aber auch Rohrweihe, Teich- oder Drosselrohrsänger fänden in den großen Schilfflächen ungestörte Nistplätze. Direkt nebenan wiederum sei auf den Wiesen, den kleinen Äckern und den Verlandungszonen der Tisch reich gedeckt. „Für sie ist das quasi ein Bed and Breakfast“.

Auch der seltene Gleitaar lässt sich an diesem Vormittag blicken, an den größeren offenen Wasserflächen sind Fischadler und Seidenreiher unterwegs – und zwei Dutzend Rosaflamingos. Aufgeschreckt schweben sie über den Wellenkämmen davon und landen in sicherer Entfernung, um mit ihren Schnäbeln erneut Kleinkrebse und Weichtiere aus dem Flachwasser zu filtern.

Unzählige Watvögel von Kampfläufern bis zu den Knutts schätzen die Ria ebenfalls als Überwinterungs- und Durchzugsgebiet. Nicht von ungefähr sind gut 50.000 Hektar ihrer Fläche als Special Protected Area (SPA) nach der EU-Vogelschutzrichtlinie ausgewiesen. Zudem leben hier unzählige Pflanzengesellschaften sowie viele Amphibien, Reptilien und mehr als 30 Säugetierarten.

Eine davon ist der Fischotter. „Hier war er“, sagt Eduardo und zeigt am Ufer eines Kanals auf ein vertrocknetes Kothäufchen. Es ist gespickt mit Panzerresten des Roten Amerikanischen Sumpfkrebs, einer aus Nordamerika eingeschleppten Art, die Bauern wie Naturschützern Sorgenfalten auf die Stirn treibt: Die Krebse bevölkern insbesondere die Reisfelder, wo ihr Bausystem den Pflanzen das Wasser abgräbt. Zudem räubern sie in den Fisch- und Amphibienbeständen. Glücklicherweise schmecken sie nicht nur dem Otter, sondern auch den Purpurreihern und den ebenfalls zahlreichen Weißstörchen. „Insofern profitiert die Ria wenigstens ein bisschen von ihnen“, meint Eduardo zweckoptimistisch.

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Auf der Hut: Rosa-Flamingos in der Ria de Aveiro

Auch an anderer Stelle droht dem Feuchtgebiet Ungemach. Ein Problem sei, erzählt Eduardo, dass sich der bislang eher kleinteilige Maisanbau immer mehr ausdehne. Zudem sollen demnächst viele Flächen eingedeicht werden, um sie besser bewirtschaften zu können. „Dadurch würden wertvolle Habitate verloren gehen.“ Doch der junge Biologe gibt die Hoffnung nicht auf: Viele Ortsansässige und Schulklassen kämen in die Ria, um das Infozentrum zu besuchen oder eine Wanderung zu unternehmen. „Ich bin überzeugt, dass diese Erfahrungen das Band zur Ria stärken – wovon letztlich auch ihr Schutz profitiert.“

Rund drei Autostunden nordöstlich der Ria, direkt an der Grenze zu Spanien, befindet sich eine weitere Perle unter Portugals Landschaften: Das Flusstal des Douro. An seinen steilen Hängen werden seit 2000 Jahren köstliche Reben kultiviert, darunter der berühmte Portwein. Zudem gehört das Tal zum Douro Internacional, einem Naturpark, der dem Verlauf des Douro über rund 120 Kilometer folgt und auch das bergige Hinterland umfasst.

Am Himmel darüber zeigen sich gewaltige Silhouetten: Geier! Sie tauchen erstmals rund um den Ribeira de Mosteiro, einen kleinen Zufluss des Douro, auf. Fünf Gänsegeier ziehen hier über schroffen Klippen ausladende Kreise in die Luft. „Sie nutzen die Aufwinde, um Höhe zu gewinnen“, erläutert Fernando Romão. „Anschließend können sie im Gleitflug große Entfernungen zurücklegen und so viel Energie sparen.“

Fernando ist Biologe und als Guide oft im Douro Internacional unterwegs. Zu dessen Tier- und Planzenwelt gehören nicht nur die Geier: Am Lauf des Ribereiro de Mosteiro etwa jagen Vipernattern Iberische Wasserfrösche. Weiter oben im Bergland brummen Wildbienen durch blühende Lavendelwiesen, und aus niedrigem Gestrüpp dringt der Ruf einer Wachtel.

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Bienenumbrummter Lavendel

Am auffälligsten bleiben dennoch die großen Greife. Im Douro Internacional leben schätzungsweise 500 bis 1000 Brutpaare des Gänsegeiers, rund 140 Brutpaare des Schmutzgeiers sowie einige Adlerarten. Besonders hoch ist ihre Dichte am Aussichtspunkt Penedo Durão: Steil fällt dort eine kolossale Gesteinswand hinab, der Blick über den Douro nach Spanien ist atemberaubend. Mehrere Gänse- und Schmutzgeier gleiten im sanften Licht der Abendsonne dahin.

Sie nisten hier nicht zuletzt wegen einer Zufütterungsstation. In grauer Vorzeit, erzählt Fernando, hätten sich die majestätischen Vögel von toten Wildpferden, Auerochsen oder Steinböcken ernährt, mit Ankunft des Menschen dann zunehmend von Viehkadavern. Doch damit sei es schwierig geworden, wegen der EU-Vorschriften in Sachen Tierseuchenhygiene, vor allem aber, weil sich die Region seit den 1940er Jahren entvölkere. „Mit den Menschen geht auch das Vieh, ohne dass es gleichwertigen Ersatz gibt. Deshalb ist Zufütterung für den Erhalt der Geier existenziell.“

Mönchsgeier über dem Penedo Durão

Mönchsgeier über dem Penedo Durão

Tags darauf gibt es eine erneute Begegnung mit den geflügelten Aasfressern. Schauplatz ist diesmal das Reservat Faia Brava, das sich südlich des Douro über 1000 Hektar auf einem Hochplateau erstreckt. Seine Felsmassive und die nahe Schlucht des Coa-Flusses bieten Brutplätze für Gänse- und Schmutzgeier, auch Stein- und Habichtsadler sowie Schwarzstorch sind mit einigen Paaren vertreten.

Überhaupt ist Faia Brava ein hochinteressantes Fleckchen Erde. Schon vor Jahrtausenden streiften Menschen durch das Einzugsgebiet des Reservats, wovon prähistorische Felsgravuren im nahen Coa-Tal Zeugnis ablegen. Später rodeten sie die alten Eichenwälder, um Holz zu gewinnen sowie Getreide anzubauen und Vieh zu weiden.

Mitte des 20. Jahrhunderts setzte jedoch auch hier die Landflucht ein – wodurch Freiräume entstanden sind, in denen nun wieder Flora und Fauna das Zepter übernehmen sollen. An diesem Morgen schimmert die Macchie in Faia Brava blass-golden, darüber erheben sich immer wieder Grüppchen aus Stein- und Korkeichen, die von den Sägen verschont blieben. Unzählige kleinere Vogelarten flattern durch die savannenartige Landschaft oder lassen ihren Gesang erklingen, vom Weiden- und Steinsperling über Wiedehopf, Wendehals und Orpheus-Grasmücke bis hin zu Rotkopf- und Mittelmeer-Raubwürger.

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Halboffene Landschaft in Faia Brava

Marmormolche und Wasserfrösche wiederum haben die glitzernden Teiche des Reservats für sich entdeckt, darüber schwirren Plattbauchlibellen herum. Heimlicher leben die Großsäuger, die ebenfalls nach Faia Brava zurückgekehrt sind, etwa das Rehwild oder der Iberischen Wolfs, der zuweilen durch das Gelände streifen.

Pedro Prata arbeitet daran, dass sich all diese Arten noch mehr Raum erschließen können. „Eine wildere Zukunft für das Größere Coa-Tal“, so lautet die Überschrift des Projekts, das der Biologe koordiniert. Auf 120.000 Hektar soll bis 2024 ein Netzwerk aus Reservaten entstehen, die bis zu den Malcata-Bergen im Süden durch Wanderkorridore miteinander verknüpft sind.

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Das Coa-Tal soll bald Herzstück eines Netzwerks für die Wildnis sein.

Träger des Projekts ist „Rewilding Europe“, eine europaweite Initiative, die auch in den Karpaten, in Lappland oder am deutsch-polnischen Oder-Delta aktiv ist. Die Prämisse der Organisation: Mithilfe artenreicher – und durchaus spektakulärer – Flora und Fauna das Profil ganzer Regionen zu schärfen und damit Naturtourismus sowie andere Kleingewerbe anzukurbeln. Davon sollen Menschen und Landschaften gleichermaßen profitieren: Die einen, weil sie selbst in strukturschwachen Gegenden noch eine Perspektive sehen. Die anderen, weil in ihnen trotz kultureller Einflüsse wieder ausreichend Platz für Wildnis ist.

Auch in Faia Brava wurde dieses Konzept erprobt. „Rewilding Europe“ kooperiert seit längerem mit dem Reservat, das ATN gehört, jener portugiesischen Naturschutzorganisation, deren Chef Pedro einst war. Er kennt Faia Brava daher aus dem Effeff – und will die Erfahrungen nun in größerem Maßstab anwenden.

Eine wesentliche Rolle dabei spielen große Pflanzenfresser. In Faia Brava streifen rund 50 Maronesa-Rinder sowie 20 Garranos-Pferde durch das Reservat. Ohne die Beweidung durch diese beiden alten Nutztierrassen, so Pedro, würde das Areal überwuchert – die Mosaikstruktur und ihre Artenvielfalt gingen verloren. Außerdem steige dann die Gefahr großer Brände, ein Problem, mit dem Portugal immer wieder zu kämpfen hat.

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Garranos-Pferde in Faia Brava

Damit Pferde und Rinder außerhalb Faia Bravas keinen Schaden anrichten, ist das Reservat eingezäunt. Kann sich auf diese Weise tatsächlich so etwas wie Wildnis entwickeln? Faia Brava sei eben ein Testlauf gewesen, sagt Pedro. Im neuen, größeren Projekt soll noch mehr Rehwild als bislang dabei helfen, die Sukzession in Schach zu halten. Außerdem setzen Pedro und seine Mitstreiter darauf, dass sich in den miteinander vernetzten Projektgebieten Wildkaninchen ausbreiten – nicht zuletzt als Beute für den Wolf und den stark gefährdeten Pardelluchs.

Aus dem Zusammenspiel großer und kleiner Pflanzenfresser mit Räubern und Aasfressern wie den Geiern, so Pedros große Hoffnung, solle wieder ein ‚Circle of Life‘ in Gang kommen. „Unser Ziel ist es, natürliche Prozesse anzustoßen, die menschliche Eingriffe auf lange Sicht überflüssig machen.“

Mit aktivem Jagdmanagement sowie Events und Festivals wollen sich Pedro und seine Mitstreiter um Aufklärung und Akzeptanz bemühen – und eben gemäß des „Rewilding Europe“-Konzepts auch wirtschaftliche Anreize setzen. In Faia Brava bieten bereits Guides Touren und Foto-Safaris an, inmitten des Reservats gibt es ein kleines Camp für Übernachtungen, und in der Umgebung vermarkten Bauern und Handwerker ihre Produkte unter dem Label „Faia Brava“.
Zudem könne inzwischen rund ein Drittel der Reservatsfläche komplett sich selbst überlassen werden, erzählt Pedro. Und unlängst wurde in der Nähe tatsächlich endlich wieder ein Pardelluchs gesichtet, höchstwahrscheinlich ein herumstreifendes Exemplar aus dem Süden, wo die Wiederansiedlung der Art läuft.

Für Pedro sind all das Hoffnungszeichen. So wie die zwei kleinen Pünktchen, die hinter dem Ausgangstor von Faia Brava über den Äckern und Dörfern auftauchen. Ein Blick durchs Fernglas – es sind ein Schlangen- und ein Zwergadler! Auch sie bauen ihre Nester wieder in Faia Brava, ohne sich naturgemäß an dessen Grenzen zu halten. Ganz in Pedros Sinne: „Wir wollen, dass wilde Arten in unserer Region wieder freier leben können. Unsere Reservate sollen dafür Keimzellen sein.“

Dieser Text erschien zuerst im NATURGUCKER Magazin #41.

Wilde Welt – Unterwegs im waldigen Westzipfel des Tessins

Dschungel. Dieses Wort schießt immer wieder durch den Kopf, wenn der Blick über diese sagenhaft sattgrün leuchtenden Bergflanken schweift. Steil stürzen sie ab, über Hunderte Meter – dorthin, wo sich der Isorno derart tief ins Gestein geschnitten hat, dass er im dichten Blättergewirr verborgen bleibt.

Valle Onsernone, so heißt dieses geheimnisvolle Ensemble im westlichen Tessin. Obwohl nur ein paar Minuten Autofahrt vom Ufer des Lago Maggiore entfernt, an dessen Ufern das Treiben Locarnos und Asconas braust, wirkt das Tal wie in sich versunken. Lediglich an seinen Nordhängen schimmert, wie Inseln im Wald, eine Handvoll winziger Ortschaften, in denen sich Häuser und Gassen eng aneinander drängen. Ganz so, als müssten sie sich gegenseitig Halt geben, um nicht in die Schlucht zu sacken.

Über der Baumgrenze: Blick auf den Laghetto dei Salei und die bewaldeten Berghänge des West-Tessins

Über der Baumgrenze: Blick auf den Laghetto dei Salei und die bewaldeten Berghänge des West-Tessins

Wer die Einsamkeit sucht, dürfte im Onsernone also fündig werden. So wie Max Frisch, der viele Jahre im Dörfchen Berzona verbrachte. „Außerhalb von allem“ sei man hier, notierte der Schriftsteller, in einem Tal, „waldig wie zur Steinzeit“. Wanderer können es ohne Probleme erkunden: Die Pfade im Onserne und seinen Nachbartälern umfassen gut 230 Kilometer. Das lieblich-sanfte Anlitz der Umgebung sollte nicht darüber hinwegtäuschen dass lockere Spaziergänge eher die Ausnahme sind: Bis auf über 2000 Meter schrauben sich manche Pässe und Berge.

Im vergangenen Sommer bin ich zusammen mit David auf jene Berge und durch jene Täler gekraxelt – und habe dabei erfahren, warum es hier fast menschenleer ist, warum die Verwilderung für manche eine Chance darstellt und wie ein geplanter Nationalpark versucht, mithilfe der Vergangenheit die Zukunft der Region zu meistern. Mehr darüber ist in der aktuellen Ausgabe des outdoor-Magazins nachzulesen. Jetzt am Kiosk…

Fish’n’Ketchup – Wie Aquaponiker die Welternährung umkrempeln wollen

Die Luft in dem Gewächshaus am Berliner Müggelsee riecht feucht und etwas modrig, die Innentemperatur beträgt knapp 26 Grad Celsius. Pumpen brummen, Wasser plätschert, Tomatenstauden ringeln sich in die Höhe. Dazwischen tummeln sich goldrote Fischschwärme in gewaltigen schwarzen Plastikfässern. Es sind Tilapien aus der Familie der Buntbarsche, zappelige Dinger, die jedem, der seine Nase zu neugierig in ihre Becken steckt, eine Dusche verpassen.

Werner Kloas ist einer der Erfinder dieses Tomaten-Barsch-Hauses. Am Leibniz-Institut für Binnenfischerei und Gewässerökologie (IGB) leitet der Zoologe die Abteilung Ökophysiologie und Aquakultur. Ihn treibt eine große Frage um: Wie lassen sich im Jahr 2050 mehr als 9 Milliarden Menschen ausreichend und ausgewogen ernähren – und zwar ohne die zweifelhaften Methoden der konventionellen Landwirtschaft? „Man wird die bestehenden Anbauflächen kaum erweitern können“, ist der 56-Jährige überzeugt. Kloas‘ Antwort lautet daher: „Wir müssen Kreisläufe schließen.“ Zum Beispiel, indem man Gemüse mit Fischabwässern düngt – das Prinzip Aquaponik.

In der IGB-Pilotanlage des "Tomatenfischs"

In der IGB-Pilotanlage des „Tomatenfischs“ (Quelle: IGB Berlin)

Schon die alten Chinesen machten sich solch kombinierte Fisch-Gemüsezuchten zunutze, indem sie Schmerlen und Karpfen in ihren Reisfeldern hielten. Jahrtausende später schicken sich quer über den Globus Forscher wie Werner Kloas an, die Aquaponik für die Neuzeit fit zu bekommen. Ihr Ziel: Den steigenden Fischbedarf in aller Welt zu decken, und zwar ohne die Umweltfolgen vieler bestehender Aquakulturen. Ihre Lösung: Das Zusammenschalten von kreislaufartigen Fischzuchtanlagen, sogenannten Recirculating Aquaculture Systems (RAS), mit hydroponischen Gemüsekulturen, die nicht in Erde, sondern einer Nährlösung gedeihen – auf dass sich beide in einer Quasi-Symbiose gegenseitig ergänzen, die vorhandenen Ressourcen optimal genutzt und natürliche Ökosysteme so wenig wie möglich belastet werden.

Wie das im Einzelnen aussieht, welche Verheißungen, aber auch Kniffligkeiten damit verbunden sind und wie Start-Ups und Entrepreneure diese Idee bereits in Form von Dach- und Stadtfarmen in die Praxis holen, habe ich mir für die Mädels und Jungs von Perspective Daily näher angeschaut. Voilá: Fish’n’Ketchup!

Grüne Fleischfresser – Die faszinierende Welt karnivorer Pflanzen

Was hat es bloß mit diesen seltsamen Gewächsen auf sich? Derartige Fragen beschäftigten einen gewissen Charles Darwin, als er im Sommer 1860 von einem Ausflug durch die südenglische Grafschaft Sussex zurückkehrte. Auf einer Heide hatte er dort unzählige Exemplare der Pflanzenart Drosera rotundifolia entdeckt. Wie mit Tau waren ihre Blätter benetzt, und auf ihnen klebten Fliegen und sogar kleine Schmetterlinge. „Ich hatte wohl gehört, dass Insekten so gefangen würden, wusste aber nichts weiteres über diesen Gegenstand“, notierte Darwin später.

Angetrieben von dieser Wissenslücke unterzog der große Naturforscher besagte Drosera-Art, auch unter dem Namen Rundblättriger Sonnentau bekannt, sowie weitere Kleingetier fangende Kräuter umfangreichen Beobachtungen und Experimenten. Seine 1875 im Buch „Insectivorous Plants – Insectenfressende Pflanzen“ veröffentlichten Resultate waren bahnbrechend: Auch die so harmlos anmutenden Geschöpfe der Florenreiche ernähren sich mitunter räuberisch.

Klebfalle eines Sonnentaus mit Beute (Quelle: Volkmar Becher/flickr.com)

Klebfalle eines Sonnentaus mit Beute
(Quelle: Volkmar Becher/flickr.com)

Heute sind weltweit etwa 700 Arten fleischfressender Pflanzen oder Karnivoren, wie sie auch genannt werden, bekannt. Zwar konzentrieren sich die meisten Spezies auf einen Gürtel rund um den Äquator sowie den Südwestzipfel Australiens. Prinzipiell sind Karnivoren jedoch quer über den Globus verbreitet.

Dank ihrer erstaunlichen Fähigkeiten können sie Standorte erobern, die den meisten anderen Pflanzen verschlossen bleiben. Moore und stehende Gewässer gehören dazu, ebenso zeitweise überflutete Sandflächen oder Felsen. Lebenswichtige Elemente wie Stickstoff, Phosphor oder Magnesium sind hier Mangelware. Um ihren Speiseplan decken zu können, gehen Karnivoren daher auf die Jagd – und erwischen dabei nicht nur Insekten: In den Blattkannen mancher asiatischer Arten haben Forscher schon Frösche, Kriechtiere und sogar Ratten gefunden.

Auch in Deutschland sind von Natur aus 13 verschiedene Karnivoren zu finden, darunter der Rundblättrige Sonnentau. Was zur ihrer Beute gehört (Spoiler: Es sind nicht nur Insekten…), welche Techniken sie dabei anwenden und wie es um ihre Gegenwart und Zukunft bestellt ist, kann in der aktuellen Ausgabe des NATURGUCKER Magazins nachgelesen werden, für die ich mich eingehender mit Karnivoren beschäftigen durfte. Eine äußerst faszinierende Angelegenheit, wie schon Charles Darwin wusste: „Ich habe mich unendlich an der Arbeit mit Drosera ergötzt“, schrieb er im Spätherbst 1860 an befreundete Kollegen. „Im Moment ist mir das wichtiger als die Abstammung aller Arten in der Welt.“

Waldmeister Berlin – Die multitalentierten Bäume der Hauptstadt

„Hot town, summer in the city
Back of my neck getting dirty and gritty
Been down, isn’t it a pity
Doesn’t seem to be a shadow in the city
All around, people looking half dead
Walking on the sidewalk, hotter than a match head…“

So besangen 1966 The Lovin‘ Spoonful den von der Sommersonne befeuerten Glutofen Stadt. Das New Yorker Quartett fand seine Zuflucht damals in der Nacht, wenn sich der erhitzte Asphalt langsam abkühlt und einzig auf den Tanzflächen der Clubs noch das Feuer lodert.

In Berlin ergeben sich auch schon tagsüber Erfrischungsmöglichkeiten. Denn Berlin ist nicht nur ein Großstadtdschungel. Berlin hat auch einen: Ein Fünftel der Stadt ist mit Wald bedeckt. Zusammen mit seinen Beständen im Umland verfügt Berlin über insgesamt knapp 30.000 Hektar. Das ist eine Größenordnung, die in Europa ihresgleichen sucht.

Der berühmte Berliner Grunewald, "Waldgebiet des Jahres 2015" (Quelle: BDF)

Der berühmte Berliner Grunewald, „Waldgebiet des Jahres 2015
(Quelle: BDF)

Und dieser Wald, er wirkt wie ein riesiger Kühlakku. Mittels Verdunstung, Strahlungsaufnahme und Beschattung. Was längst nicht alles ist: Dank ihrer Reinigungs- und Speicherfähigkeiten kommen rund 80 Prozent des städtischen Trinkwassers aus Berlins Wäldern. Wie Dunstabzugshauben säubern überdies ihre Blätter und Nadeln den Großstadtmief – weswegen Waldluft zum Beispiel bis zu 15 Mal weniger Bakterien enthält als ihr City-Pendant.

In Zeiten von Urbanisierung und Klimawandel geraten derartige, in der Fachwelt oft als „Ökosystemdienstleistungen“ bezeichnete Talente sogar zu einer Gretchenfrage. Längst gelten nicht nur Arbeitsplätze, Kulturangebot oder Wohnraum als Standortvorteile von Städten, sondern auch Grünflächen und Wälder. Nicht zuletzt, weil sie neben ihres eher unsichtbaren Könnens eben auch eine Menge offensichtlicher Lebensqualität bieten: Allein in Berlin verzeichnet der Wald 250 Millionen Besuche pro Jahr, von Spaziergängern, Radfahrern und Naturfreunden.

Das ist eine Menge. Dennoch finden sich abseits der Hot Spots noch immer stille und geheimnisvolle Flecken. Man muss sich nur auf die Suche machen. Erste Hinweise hierzu finden sich im kürzlich erschienen Sonderheft des tip „Sommer in Berlin“, für das ich an einem Feature zum Thema Berliner Wald mitarbeiten durfte. Gibt’s an Kiosken, in Bahnhöfen oder online zu bestellen. Ansonsten finden sich eine Menge Tourenvorschläge auch hier bei den Berliner Forsten.

Insofern: Statt gerösteter Gehirne und durchgebrannter Sicherungen lieber ab in den Wald! Dahin, wo der „shadow“ ist…

Hoffnung für den „Märkischen Strauß“ – Zu Besuch bei den letzten Großtrappen Deutschlands

Er sieht aus wie ein Kunstwerk von Salvador Dali. Leuchtendes Weiß, ein Hauch von Rotbraun sowie helles Grau mit einem Stich ins Himmelblaue, alles seltsam ineinander verschwommen. Er bläht den Hals, reckt den Federbart, spreizt aufreizend die Flügel von unten nach oben, dreht sich, hebt das Hinterteil, tänzelt, stolziert. Ein prächtiger Anblick, solch ein balzender Großtrappenhahn.

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Balzender Großtrappenhahn im Westhavelland. (Quelle: Förderverein Großtrappenschutz)

Das Spektakel findet von Mitte März bis Mitte Mai statt, dann, wenn die Hähne an bereits seit Generationen genutzten Balzplätzen zusammenkommen und prahlerisch um die Gunst der Hennen werben. Dass es hierzulande überhaupt noch in freier Wildbahn zu bewundern ist, war lange Zeit nicht ausgemacht.

Ursprünglich kamen und kommen die Großtrappen in den Steppen Europas und Mittelasiens vor, deren offen einsehbare Strukturen ihrem wachsamen Wesen entsprechen. Als ab dem Mittelalter für die Landwirtschaft Wälder gerodet und Sümpfe trockengelegt wurden, besiedelten die Vögel zunehmend auch die „Kultursteppen“ des Acker- und Weidelandes und waren im 18. Jahrhundert in ganz Europa bis nach Schottland und Südschweden weit verbreitet.

Davon kann heute keine Rede mehr sein: Inzwischen gelten die kolossalen Tiere weltweit als gefährdet, die etwa 50.000 verbliebenen Exemplare leben in versprengten Restpopulationen von Spanien bis zum westlichen China. Die Roten Listen verzeichnen die Art hierzulande sogar als vom Aussterben bedroht. Ehemalige Vorkommen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen sind vor Jahrzehnten erloschen, einzig an der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Brandenburg finden sich noch drei kleine Einstandsgebiete.

Ingesamt knapp 170 Großtrappen leben dort derzeit, im Havelländischen Luch bei Buckow, dem Fiener Bruch im Süden Genthins sowie auf den Belziger Landschaftswiesen. Dass es sie noch gibt, ist örtlichen Ornithologen rund um das Ehepaar Heinz und Bärbel Litzbarski zu verdanken, die sich in den Siebziger Jahren an den Schutz der vom Exodus bedrohten Vögel machten. Ein Förderverein führt die Arbeit bis heute fort und versucht, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Art hierzulande ihr Überleben wieder aus eigener Kraft sichern kann.

Wie das konkret passiert, habe ich mir im Rahmen eines Vor-Ort-Besuchs erklären lassen und für die aktuelle Ausgabe des NATURGUCKER Magazins aufgeschrieben. In dem Bericht geht es um die industrialisierte Landwirtschaft, um Fuchs, Waschbär und Seeadler, aber auch darum, wieso es leise Anzeichen der Hoffnung gibt, dass das atemberaubende Angebertum der Großtrappenhähne auch in Zukunft zu bewundern ist. Schön wäre es ja. Denn ohne den „Märkischen Strauß“, der eigentlich mit den Kranichen und Rallen verwandt ist,  würde was fehlen:

Die schwierige Rückkehr der Waldkönige – Das Wisent-Auswilderungsprojekt im Rothaargebirge

Mächtige Hirschtrophäen zieren das Foyer von Schloss Berleburg. An den Wänden zeigen historische Stiche Szenen einer Hasen- und Sauenhatz, eine Ahnengalerie präsentiert gewichtige Persönlichkeiten. Der Bau im Renaissancestil ist Stamm- und Wohnsitz der Familie zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, einem Adelsgeschlecht, dessen Wurzeln bis in das 12. Jahrhundert zurück reichen. Einer der Hausherren, Prinz Gustav, sitzt Anfang Mai mit schwarzer Daunenweste und schweren Bergstiefeln vor Pressevertretern auf einem Podium im Schlossfoyer und sagt, es sei „ein spannendes Jahr“ gewesen. Er redet nicht von der Jagd auf Hasen, Wildschweine oder Hirsche. Prinz Gustav redet von den Wisenten, die erstmals seit Jahrhunderten wieder durch einen westeuropäischen Wald ziehen.

Rückblende: Es ist der 11. April 2013, als sich für Abdia, Abtisa, Araneta, Dareli, Daviedi, die Queen vom Rothaarsteig sowie Egnar und Quandor die Tore zur Freiheit öffnen. Knapp drei Jahre haben die sechs Kühe und die zwei Bullen in einem Auswilderungsgehege nördlich der Kleinstadt Bad Berleburg gelebt. Nun soll die Herde in den umliegenden Wäldern des Rothaargebirges tun und lassen dürfen, was ihnen gefällt. Mehr oder weniger jedenfalls.

Die ausgewilderte Wisent-Herde im Rothaargebirge

Die Idee dazu hatte Prinz Richard, der Vater von Gustav und das Oberhaupt der zu Sayn-Wittgenstein-Berleburgs. Die Familie betreibt in der Region die größte private Forstwirtschaft Nordrhein-Westfalens, insgesamt 13.000 Hektar Wald, in dem vor allem Fichten und Buchen wachsen. Hier brüten seltene Vögel wie Schwarzstorch oder Raufußkauz, und im Jahr 2003 kam Prinz Richard dann auf den Gedanken, einen Teil seines Forsts auch den Wisenten zur Verfügung zu stellen. Immerhin seien die Riesen, so erklärte er es einmal in einem Interview, „wunderbare, faszinierende Tiere“, die obendrein in die örtliche Landschaft gehörten.

Tatsächlich lag Deutschland einst mittendrin im Wisent-Populationsgebiet. Bison bonasus, so der wissenschaftliche Name des massigen Wildrinds, war als „König der Wälder“ ursprünglich in drei Unterarten von Frankreich und Spanien bis zur Wolga sowie dem Kaukasus verbreitet. Forst- und Landwirtschaft sowie Jagd und Wilderei dezimierten den Bestand jedoch immer mehr, bis 1927 im Kaukasus der letzte freilebende Wisent geschossen wurde.

Das Aussterben der Art konnte trotzdem abgewendet werden, wenn auch nur um Haaresbreite: In Tiergärten existierten Anfang der Zwanziger noch 54 Exemplare, so dass engagierte Biologen und Zoodirektoren ein aufwändiges Zuchtprogramm auflegten. 1952 konnten die ersten Wisente wieder ausgewildert werden, im Urwald von Białowieża an der polnisch-weißrussischen Grenze, ähnliche Projekte in der Ukraine, Russland, der Slowakei und Litauen folgten.

Trittsiegel eines Wisents

Heute gibt es weltweit wieder mehr als 5000 der massigen Rinder. Knapp zwei Drittel davon entfallen auf die freien Populationen Osteuropas, und wie dort sollen die Wisente auch in mittel- und westeuropäischen Wäldern abermals heimisch werden – zumindest wenn es nach den zu Sayn-Wittgenstein-Berleburgs und ihren Mitstreitern geht. Johannes Röhl, der als Forstdirektor die Geschäfte im fürstlichen Wald führt, sagt beim Pressetermin auf Schloss Berleburg, Hauptziel aller Beteiligten sei es, „dabei behilflich zu sein, dem Wisent in einem Freilandprojekt beim Überleben zu helfen“. Denn trotz aller Nachzuchterfolge stehe die Art noch immer vor einer „genetischen Katastrophe“.

Was Röhl meint, ist der Umstand, dass die Anfang der Zwanziger Jahre verbliebenen Wisente von lediglich zwölf Gründertieren abstammten. Auch heute noch resultiert daraus eine hohe Inzuchtgefahr sowie die Anfälligkeit für Krankheiten. Jedes Individuum ist daher im Internationalen Wisent-Zuchtbuch registriert, um die Rekombination von geeigneten Elterntieren koordinieren zu können und so den globalen Bestand weiter wachsen zu lassen.

Diese Strategie ist freilich darauf angewiesen, bestehende Herden zu erweitern und neue zu entwickeln – wie jetzt im Rothaargebirge. Schon vor dem Auswilderungsprojekt galt Deutschland als wichtige „Wisentnation“, mit mehr als 500 Tieren in Zoos oder großen Freigehegen wie der Döberitzer Heide. Um sie nun auch in freier Wildbahn wieder ansiedeln zu können, sagt Forstdirektor Röhl, brauche es keine Urwälder wie in Osteuropa. „Uns geht es darum, Mut zu machen und zu zeigen, so ein Projekt geht auch im Wirtschaftswald.“

Die Herde der „Wisent-Wildnis“ bei Bad Berleburg

Das sehen nicht alle so. Zwar sind Kreis- und Landespolitik mit im Boot, nicht zuletzt aus Gründen des Regionalmarketings, auch das Bundesamt für Naturschutz begleitet das Projekt. Waldbesitzer im benachbarten Hochsauerlandkreis jedoch klagen seit der Freilassung der Wisente über Schälschäden an ihren Bäumen – und sind jetzt vor Gericht gezogen, um zu verhindern, dass sich die Riesen weiterhin an der Rinde ihrer Buchen gütlich tun.

Noch ein wenig ausführlicher nachzulesen ist das alles in der aktuellen Ausgabe des naturgucker Magazins, für die ich die Auswilderung der Wisente im Rothaargebirge samt ihrer Schwierigkeiten etwas ausführlicher beschrieben habe (eine Vorschau auf das Heft gibt es hier). Es ist eine Geschichte über den grundsätzlichen Konflikt, Wildnis und Zivilisation unter den gegebenen Umständen in Einklang zu bringen. Mit offenem Ausgang.

Unsere große Farm – Urbane Landwirtschaft in Berlin

Das Schicksal der Welt entscheide sich in den Städten, so notierte es Fernand Braudel einmal sinngemäß. Was der französische Historiker noch auf den sozialen Alltag im 15. bis 18. Jahrhundert bezog, erscheint heute aktueller denn je: Den UN zufolge werden im Jahr 2050 zwei Drittel der wachsenden Weltbevölkerung in urbanen Räumen leben, andere Schätzungen taxieren den Anteil sogar auf 80 Prozent.

Die damit verbundenen Herausforderungen sind gewaltig. In der Diskussion, wie Städte sie sinnvoll bewältigen könnten, hat sich etwas herauskristallisiert, das vor wenigen Jahren noch als Domäne der Klein- und Schrebergärtner galt: Die urbane Landwirtschaft. Ihre real existierenden Erscheinungsformen – von der nahezu autarken Gemüseversorgung Havannas über die hektargroßen Gewächshäuser auf New Yorks Dächern bis zu den kooperativen Farmen São Paulos oder Pekings – verschmelzen dabei mit Zukunftsvisionen von Hochhäusern, die als vertikale Farmen neben vegetarischer Kost auch Hühner oder Fisch züchten, zu einem verheißungsvollen Bild: Lebensmittelproduktion in der Stadt könnte Transportwege minimieren, Ernährungssouveränität herstellen sowie ökonomische Werte und Arbeitsplätze schaffen, zudem Blaupause für Stoffkreisläufe sein, die städtische Biodiversität fördern, den Klima- und Wasserhaushalt verbessern und sozialen Gemeinsinn stiften. „Urban Farming“, die eierlegende Wollmilchsau der Nachhaltigkeit?

Hoch(haus)landrinder: Tierhaltung in Marzahn
(Quelle: Agrarbörse Deutschland Ost e.V.)

Berlin ist nicht der schlechteste Ort, um diese Frage zu ergründen – ist die Stadt doch einem für hiesige Verhältnisse rasantem Bevölkerungswachstum unterworfen und zugleich der deutsche Hot Spot, was das städtische Gärtnern moderner Prägung angeht.

Daher habe ich mich hier mal zum Thema umgetan, und herausgekommen ist die aktuelle Titelgeschichte des tip, die neben einer kleinen Bestandsanalyse auch diverse Akteure des Urban Farming Berliner Prägung beleuchtet (Update 8.9.14: einige der Geschichten sind jetzt auch online zu finden). Mit dabei: Die Schafherde der Agrarbörse, der kommende Aquaponik-Bauernhof von ECF Farmsystems, diverse Indoor- und Vertical-Farming-Konzepte und natürlich der Prinzessinnengarten, der nach fünf Jahren eine Art Zwischenbilanz zieht.  Alles sehr aufregend, wie ich ganz unbescheiden finde…

Ich wachs Dich fertig – Konkurrenzkampf unter Pflanzen

„Homo homini lupus est“ postulierte einst Thomas Hobbes – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Doch auch im so harmonisch anmutenden Planzenreich herrscht das Prinzip der Ellbogengesellschaft.

Da wäre etwa der Walnussbaum: 1,4,5-Trihydroxynaphthyl-4-glucosid heißt das Mittelchen, das in seinen Blättern und Fruchtschalen eingelagert ist. Fallen die irgendwann zu Boden, entsteht aus der  Chemikalie Juglon. Und der vergiftet mal kurzerhand Keimlinge, auf dass der Walnuss keine aufmüpfigen Nachbarn erwachsen.

Zweites Beispiel: Buche gegen Birke. Über Jahrzehnte hilft die robuste Birke der feinfühligeren Buche, sich auch unwirtliche Standorte zu erschließen. Ihr Laub wird auf karger Erde zu fruchtbarem Humus, ihre Wurzeln vermeiden Erosion, und ihr lockeres Blätterdach reguliert im Sommer die Sonneneinstrahlung, während das Geäst, an dem es hängt, im Winter die Bodenwärme zurückwirft. Und dennoch ist ein friedliches Nebeneinander beider Bäume auf Dauer die Ausnahme: Birken werden nur rund 120 Jahre alt. In dieser Zeitspanne sind die behüteten Buchenschösslinge groß genug geworden, um das Kommando zu übernehmen. Nun beschatten ihre dichten Baumkronen den Waldboden, was den Nachkommen der sehr lichtbedürftigen Birke kaum Chancen lässt. Undank ist eben der Welten Lohn!

Für weiteres Anschauungsmaterial empfehle ich einen Blick in die neue Ausgabe von WALD, für deren Infografik ich da noch ein büschen mehr aufgeschrieben habe. Es geht dabei neben der Robinie auch um die von den Galliern so geschätzte Mistel. Fieses Ding, das, kann ich Euch sajen. Naja, abgesehen von ihrer Heilwirkung und der Sache mit dem Knutschen natürlich…